Stellen Sie sich vor, Sie erwachen in Berlin. Sie treten auf die Straße und alles sieht aus wie immer. Nur die Menschen benehmen sich wie vor 300 Jahren. Venezianische Gondeln befahren die Spree, das Gewirr der Kanäle und das Straßenleben verwandeln sich in eine tragikomische Burlesque.
Stellen Sie sich vor, Sie erwachen in Berlin und treten auf die Straße. Alles sieht so aus wie immer, nur die Menschen benehmen sich wie vor 300 Jahren. Die Gegenwart mit den Instrumenten der Vergangenheit zu beleuchten ist in der bildenden Kunst ein bekanntes Verfahren. Die Leipziger Malerschule von Werner Tübke bis Neo Rauch geht diesen Weg. Auf der Bühne ist diese Vorgehensweise bisher unüblich, aber genauso erfolgsversprechend wie in der Malerei.
Dies gilt insbesondere, wenn man eine theatralische Ausgangssituation hat wie die in „Le Carnaval de Venise“ des Komponisten André Campra und des Dichters und Abenteurers Jean-François Regnard. Das Stück beginnt im kulturell abgeschotteten Paris der späten Regie-rungszeit Ludwigs XIV. und wandert nach Venedig, einem kulturellen Brennpunkt jener Zeit. Berlin entsprach in den Jahren des Kalten Krieges dem abgeschotteten Paris des späten 17. Jahrhunderts und entwickelt sich jetzt wie Venedig vor 300 Jahren. Karneval, als ein Neben- und Übereinander aller möglichen Vergnü-gungen, wurde im damaligen Venedig und wird im heutigen Berlin tendenziell das ganze Jahr über abgehalten. Diese Entwicklung hatte in beiden Städten vergleichbare Katalysatoren:
Das Libretto von „Le Carnaval de Venise“ folgt dem schlichten Thema-und-Variationenprinzip der Ballettdramaturgie des 17. Jahrhunderts ergänzt durch eine Rahmenhandlung des Romeo-und-Julia-Sujets. Da die Handlung des Stückes sehr eindeutig ist, kann die Inszenierung vielschichtiger sein. Die szenische Einrich-tung der Opera-Ballet trägt deshalb den Titel „Carnaval de Venise (à Berlin)“. Die Handlung bleibt erhalten und wird mit einfachen szenischen Manipula-tionen ins Berlin von heute übertragen. Ein weiterer dramaturgischer Widerhaken besteht darin, dass sich die Darsteller historischer Spieltechniken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts bedienen1. Die Bildkraft der rhetorischen Gestik akademischer Prägung und der mimischen Tier-metaphern der Commedia dell’Arte entschleunigen die Handlung. Das Publikum ist eingeladen, das Berlin von heute als barocken Tagtraum zu erleben. Dem Thema-und-Variationenprinzip des Stückes folgend, ist der Traum ein Kettentraum, bei dem die oben genannten Analogien zwischen venezianischem Karneval im eigentlichen Sinne und dem Berliner Karneval im übertragenen Sinne ins Spiel gebracht werden.
Klaus Abromeit, Mai 2013
Als Aufführungsort wurde die St.-Elisabeth-Kirche (Invalidenstraße, Berlin-Mitte) ausgewählt. Die Schinkelkirche repräsentiert alle Facetten der Aufführung: Verbindung von Altem und Neuem, Fragmentarisches und Wiederaufgebautes. Diese Kirche ist als Raum durch viele hochrangige Veranstaltungen (z.B. Berliner Rede des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler) und durch Kunstprojekte bekannt.